Koketterie der Missstände
Kennst du das auch?
Du sitzt auf einer Party, in einer zufällig zusammengewürfelten Runde. Irgendwo, irgendwie. Und da sind Menschen, die du nicht kennst – noch nicht. Man plaudert, tastet sich vorsichtig ins Gespräch. Und plötzlich, ohne Vorwarnung, rollt jemand die eigenen Kindheitsabgründe aus – tragisch, mit dramatischem Unterton. Und du weißt sofort: Das hier ist keine Einladung zur Nähe. Das ist der Beginn eines unerklärlichen Wettbewerbs.
Ein Schlachtfeld der Traumata.
Einer erzählt von Vernachlässigung, der Nächste legt emotionalen Missbrauch nach, es folgen körperliche Gewalt, psychische Zerstörung, Vergewaltigung. Wer leidet am glaubwürdigsten, am tiefsten, am intensivsten? Wer darf das größte “Opferabzeichen” tragen? Wer traut sich, das Elend mit Glanz zu polieren?
Und ich? Ich sitze daneben – manchmal betroffen, manchmal stumm. Manchmal lasse ich mich triggern, mische mich ein. Und dann beginnt das Ritual der Steigerung: Wer hat das Schlimmste erlebt?
Wer gewinnt das traurigste Leben?
Das Schlimmste: Man darf auf keinen Fall “mehr” erlebt haben als das Gegenüber.
Denn dann wird geschwiegen. Oder gekontert. Oder ignoriert.
Es ist eine Form von sozialer Koketterie, die mich ratlos macht.
Koketterie mit dem Schmerz. Mit der Vergangenheit. Mit dem eigenen Überleben.
Warum eigentlich?
Warum definieren wir uns über das, was uns kaputtgemacht hat – statt über das, was uns heute lebendig macht?
Heute ist genug.
Ich habe auch einiges erlebt. So wie viele. Und ja – an manchen Tagen ist die Vergangenheit präsenter als an anderen. Aber muss sie mich definieren? Muss sie mein sozialer Auftritt sein? Mein Verkaufsargument?
Nein.
Wir haben heute die Wahl. Jeden Tag.
Nicht, um die Vergangenheit zu leugnen – sondern um ihr nicht das ganze Jetzt zu opfern.
Wir dürfen erzählen, ja. Aber nicht, um zu beweisen, wie besonders unser Schmerz war – sondern weil wir etwas teilen wollen, was uns verbindet, nicht abgrenzt.
Wir sind nicht „jemand“, weil wir überlebt haben.
Wir sind jemand, weil wir sind.
Drei Gedanken für dein Heute:
„Du bist nicht dein Schmerz. Du bist der Raum, in dem er einmal war.“
„Heilung ist nicht das Ende der Wunde – sondern das Aufhören, sie vorzuzeigen.“
„Es ist ein stiller Sieg, morgens aufzustehen – ohne Applaus, ohne Bühne.“
Ich will kein Mensch sein, der glänzt durch das, was er ertragen hat.
Ich will jemand sein, der morgens aufsteht, sich einen Kaffee macht und denkt:
Heute wird ein schöner Tag. Einfach, weil ich ihn dazu mache.
Für mich. Für dich. Für uns.
Nicht, weil wir gelitten haben –
sondern weil wir leben. Jetzt. Und das reicht.